Wege zum Loslassen
– von Ute Buth
Kinder sind ein Geschenk. Das wird umso deutlicher, wenn sich der Kinderwunsch im Leben von Menschen trotz aller Anstrengungen und allen Hoffens und Bangens nicht erfüllen will. Oder wenn urplötzliche Tatsachen, eine medizinische Diagnose aus oft heiterem Himmel diesen Weg versperren. Oder wenn einem als Single der Lebenspartner fehlt, mit dem man sich auf dieses Terrain begeben wollte.
Und dann schleicht sie sich womöglich irgendwann auf die Agenda: die Frage nach dem Loslassen und Abschied nehmen. Bei den einen früher, bei anderen später, bei manchen nie. Alter, Lebenssituation, Energie und persönliche Ressourcen spielen mit hinein. Manchmal landet diese Frage auch von außen mitten im Geschehen, wie ein nicht bestelltes Paket. Was nun?!
In einer Welt, in der technisch und medizinisch so viel gelingt, werden wir doch immer wieder mit der herausfordernden Tatsache konfrontiert: Nicht jeder Mensch mit Kinderwunsch bekommt auch tatsächlich Kinder. Ein schwer auszuhaltender Gedanke. Viele Betroffene ringen verständlicherweise mit der Frage: »Warum gerade ich? Wieso wir?!«
Meist trifft ein unerfüllter Kinderwunsch Menschen auf ihrem Lebensweg unerwartet und entpuppt sich nicht selten als unkalkulierbar.
Bei den einen schneit er überraschend herein, um sich kurz drauf blitzartig wieder zu verabschieden, beinahe als hätte er sich in der Tür geirrt. Bei vielen anderen erweist er sich als beharrlicher unerwünschter Wegbegleiter, dessen Verweildauer niemand genau abschätzen kann. Der unerfüllte Kinderwunsch kann sich zur vielschichtigen Belastungsprobe im Beziehungsgefüge von persönlicher Identität, Partnerschaft, Verwandtschaftsbeziehungen, Freundschaften und der Gottesbeziehung entwickeln.
All dies wirkt sich auch auf die Frage des Abschiednehmens aus. Damit verbunden sind Wünsche und Lebensträume. Betroffene haben oft unfassbar viel investiert an Kraft und Ressourcen, sind viele Extrameilen und durch manche Tiefen gegangen. Das macht die Frage des Loslassens besonders herausfordernd. Und so nähern wir uns dieser Fragestellung bewusst mit Abstand.
Abschiednehmen – aber wie?
- »Ja, die Chancen stehen eigentlich schlecht, aber solange ich meine Tage noch habe, könnte ich vielleicht doch noch schwanger werden…« – Das Wahrnehmen der eigenen immer noch vorhandenen Fruchtbarkeit steht einem Abschied vom Kinderwunsch oft diametral entgegen. Man befindet sich in einer Art von »Zwischenzeit«, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt.
- Es ist eher wahrscheinlich und normal, dass in einer Partnerschaft beide Partner unterschiedliche Gedanken, Empfindungen und Bedürfnisse zum Thema Kinderwunsch haben. Falls der Abschied vom unerfüllten Kinderwunsch von beiden Partnern gleichzeitig stimmig erlebt wird, ist dies eine besondere Gnade, keine Selbstverständlichkeit!
- Beim Abschied sind die verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen und können grundverschieden wahrgenommen werden! Zum Beispiel kognitiv, sachlich: Es hat keinen Zweck mehr, da ist/sind diese belastende Diagnose/die einsetzenden Wechseljahre/die schwindenden Ressourcen/…, die den Abschied vom Kinderwunsch mehr oder weniger deutlich nahelegen. Und doch mag der Einzelne auf seiner Empfindungsebene emotional, persönlich ganz woanders stehen. Da hilft dann kein Expressmodus, drüber bügeln und Tatsachen schaffen, sondern das Innehalten, Aussprechen und Anerkennen, mitunter auch eine Hilfestellung in der Beratung.
- Abschied nehmen kann bedeuten, Lügen aufzudecken und zu verabschieden, etwa dass man ohne Kinder nicht glücklich werden kann…!
- Es ist wichtig, die Entwicklungsstadien anzuerkennen, zu würdigen und einzuordnen. Prozesse im Kopf lassen sich genau so wenig abkürzen wie das Zerren an Keimlingen deren Wachstum beschleunigen oder das Rupfen an der Blüte daraus umgehend einen Apfel machen könnte.
- Manche Betroffene erleben das Loslassen wie Kreise im Wasser, die ein geworfener Stein zieht. Die unterschiedlich hohen »Wellen« sind meist nicht vorhersehbar. Zwischendurch gibt es ruhige Phasen, man denkt womöglich, das Thema nun langsam verarbeitet zu haben, bis plötzlich, wie aus dem Nichts, eine weitere Welle kommt und alles wieder auf die Lebensbühne spült.
Was hat anderen beim Abschied nehmen geholfen?
- Die Erkenntnis zulassen, dass womöglich ein Abschied ansteht.
- Die Würdigung, was ich/wir auf diesem Weg bis hierher gut gemacht habe/n.
- Das Vergewissern über die Ressourcen und alternativen Lebenskonzepte, die ich/wir mitbringen. Gibt es einen »Plan B«?
- Der Handlungsspielraum: Beim aktiven Loslassen bin ich nicht fremdgesteuert oder ein emotionsloser Statist meines Lebens, sondern aktiver Gestalter.
- Die Erlaubnis, die eigenen Gefühle nicht verstellen zu müssen. Auch wenn ich Abschied nehme, darf ich das weiterhin schmerzhaft, ungerecht, ärgerlich, traurig, … finden.
- Schritt für Schritt: Nur so viel tun, wie gerade möglich ist. Manchen hilft ein Loslassen auf Raten. Das Abgeben von belastenden Gegenständen, wie beispielsweise der geschenkte Kinderwagen, der nun schon seit Jahren anklagend im Keller steht…
- Der unvermutete Blickwinkel: Kann ich auch Vorteile in Abschieden sehen? Gäbe es Vorteile in diesem speziellen Abschied?
- Das Anerkennen: Den Wunsch kann ich nicht wegwünschen. Ich kann mich aber von Schritten verabschieden, die ihn aktiv verfolgen.
- Ein möglicher Entschluss zum Abschied bedeutet keinen Verrat an meinen ungeborenen Kindern, an meinen Hoffnungen und Wünschen.
- Die Gegebenheiten der Gegenwart annehmen. Eventuelle Anklagen und Eventualitäten aus »hätte, könnte, sollte« fallen lassen. Die richten im Hier und Jetzt nichts mehr aus. Zeitreisen in die Vergangenheit sind nach wie vor nicht möglich. Mein Handlungsspielraum ist im Hier und Jetzt.
- Der Trauer Raum geben. Die Trauer um die Kinder, die ich nie geboren habe, holt mich manchmal ein und fordert Aufmerksamkeit. Das respektiere ich und schaffe dann auch Raum dafür. Doch gleichzeitig hüte ich mich davor, mein jetziges Leben von der Trauer abwerten und kleinreden zu lassen.
- Frieden schließen mit einer Entwicklung, die ich nie gewollt habe, um meiner selbst Willen, ist auch eine Form von Selbstfürsorge.
- Der Ausblick: Im Abschied nehmen kann ich es mir ermöglichen, einem neuen Kapitel in meinem Leben Raum zu geben. Und dieses Drehbuch schreibe ich aktiv mit.
Ausblick
Loslassen ist also eher ein Prozess als eine punktuelle Entscheidung und alles in allem ein höchst individuelles Geschehen. Zwar gibt es Menschen, die danach noch Eltern eines leiblichen Kindes wurden, doch dahinter steckt keine Formel für die Allgemeinheit und erst recht keine Gewährleistung. Ja, Loslassen kann Stress und Anspannung reduzieren, aber nicht jede Ursache eines unerfüllten Kinderwunsches beseitigen. Loslassen ist daher kein garantierter Tauschhandel mit Gott unter dem Motto: »Wenn ich loslasse, bist du in der Pflicht, mir das ersehnte Kind zu geben!«
Ein Abschied vom Wunsch, leibliche Kinder zu haben, ist nicht zwangsläufig ein Abschied von Fruchtbarkeit an sich, und muss auch nicht bedeuten, kinderlos zu bleiben. Für manche ist es aber ein Abschied vom Leben mit Kindern. Über den Plan B, wie kreativ und vielfältig Menschen diesen für sich in die Praxis umsetzten, sprechen wir u. a. in dem Online-Seminar »Ein unerfüllter Kinderwunsch ist kein Spaziergang«. Herzliche Einladung!
Zur Autorin: Dr. med. Ute Buth ist Frauenärztin, Sexualberaterin nach DGfS und Fachberaterin beim Weißen Kreuz Deutschland e. V. Die Buchautorin u. a. von »Ich warte noch auf dich« leitet die Beratungsstelle herzenskunst in Bochum, berät dort zum unerfüllten Kinderwunsch und leitet seit vielen Jahren das team-f Seminar »Ein unerfüllter Kinderwunsch ist kein Spaziergang«.