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»Ich bin dumm!«

Negative Glaubenssätze loslassen

– von Annika Marx

Es traf mich sehr unvorbereitet in der zweiten Physikstunde meines Lebens. Siebte Klasse, Gymnasium. Mein damaliger Lehrer forderte mich zu Beginn des Unterrichts auf, das Thema der vergangenen Stunde zu wiederholen. Ich wusste, dass es etwas mit der Entstehung des Gewitters zu tun hatte. Also versuchte ich mich irgendwie an einer Abhandlung über positive und negative Spannung… Entladung.

Meine Mitschüler um mich herum schwiegen, senkten die Köpfe. Mir wurde ganz heiß und ich merkte, dass meine Ausführungen meinem Lehrer bei Weitem nicht ausreichten – gehörte es für ihn bei einer Zusammenfassung doch wie selbstverständlich dazu, seinen genauen Wortlaut der vorangegangenen Stunde zu zitieren. Aber auch inhaltlich hatte ich es wohl noch nicht richtig verstanden.

Als Reaktion auf mein vermeintliches Scheitern zückte mein Physiklehrer sein rotes Notenheft und trug mir mit einem entsprechenden Kommentar vor den Augen aller eine »6« ein. Die darauffolgenden zwei Jahre war ich zu Beginn jeder Physikstunde dazu eingeteilt, die Tafel zu putzen und die Zusammenfassung der letzten Stunde zu geben. Meine Bemühungen brachten mir nicht mehr als eine »5« auf dem Zeugnis sowie einen blauen Brief nach Hause ein. Bauchschmerzen vor jeder Physikstunde inklusive. Leider kann ich bis heute nicht sagen, ob oder was ich in diesem Unterrichtsfach gelernt habe.

Mein noch recht kindlich/jugendliches Ich jedoch kam zu dem Entschluss, dass es an mir liegen musste. Ich war dem Stoff nicht gewachsen, verstand einfach zu wenig. Ich musste wohl »dumm« sein. Auf dem Gymnasium hatte ich eigentlich nichts verloren.

Die tiefe Beschämung, die ich erlebt hatte, führte mich zur der Annahme, dass ich intellektuell unterlegen war. Ich fühlte mich minderwertig und klein. Das Erlebte fiel zudem auf den fruchtbaren Boden eines eher geringen Selbstwertes und ein innerer, negativer Glaubenssatz über mich und meine Fähigkeiten bildete sich aus: »Ich bin dumm.«

Wie kommen wir zu solch destruktiven Annahmen über unser Selbst?
Negative Glaubenssätze sind häufig tiefe, unbewusste Überzeugungen. Wir entwickeln sie meist in unserer Kindheit und Jugend durch Situationen und Erlebnisse mit unseren Eltern, weiteren Bezugspersonen oder auch Lehrkräften. Dabei haben unsere Mitmenschen uns diese Sätze häufig nicht direkt zugesprochen. Sie entstehen aus unserer eigenen Interpretation des Erlebten. Zeigt sich Mama glücklich, stolz und zufrieden, kommt ein Kind eher zu der Annahme, dass es geliebt, gewollt und begabt ist. Positive Glaubenssätze können wachsen. Zeigt sich eine direkte Bezugsperson jedoch sehr angespannt, kritisch oder abwertend, gelangt ein Kind zu der Überzeugung, schlecht, minderwertig oder gar Schuld am Gefühl des Erwachsenen zu sein.

Kinder beziehen das Verhalten ihrer Eltern in der Regel auf sich selbst.

Es ist ihnen noch nicht möglich, eine kritische Position zum elterlichen Verhalten einzunehmen und sich davon zu distanzieren. Allerdings haben Kinder sehr feine Antennen für die Atmosphäre und die damit einhergehenden Gefühle, die durch die Erwachsenen transportiert werden. Somit beziehen sie Vieles von dem, was sie erleben, auf ihr eigenes Handeln und Sein.

Für mich bedeutete mein negativer innerer Glaubenssatz, dass ich mich immer weiter innerlich zurückzog. Ich verstummte regelrecht in der Schule und traute es mir nicht mehr zu, mich mündlich zu beteiligen. Niemand sollte hören oder sehen, dass ich »zu dumm« für das Unterrichtsgeschehen war. Zur Folge hatte dies jedoch, dass weitere Lehrkräfte meine geringe Beteiligung als Desinteresse oder Unwissen interpretierten und ich so in weitere, konfrontierende Situationen durch Lehrkräfte geriet. Die dadurch ausgelöste Panik machte es mir beinahe unmöglich, noch einen klaren Gedanken zu fassen. So entstanden neben Sprach- auch Denkblockaden. Eine Negativspirale entwickelte sich, an deren Ende ich immer wieder zu demselben Ergebnis kam: »Ich bin ungenügend.« Dennoch schaffte ich es – sozusagen heimlich, still und leise – mein Abitur zur erlangen. Gefühlt hatte ich einfach in meiner Schockstarre »ausgeharrt«.

Wie können negative Glaubenssätze umgeschrieben werden?
In dieser Phase meines Lebens startete parallel ein göttliches Heilungsprogramm. So gab es einen Jugendpastor in unserer Freikirche, der mir etwas zutraute. Er erkannte und förderte mein musikalisches Talent. Das Reden fiel mir häufig viel zu schwer – das Singen jedoch deutlich leichter. Ich wurde zur Sängerin der Jugendband. Auf diese Weise erfuhr ich Anerkennung und Wertschätzung. Ein kleines Stück meiner Würde wurde wieder hergestellt.

Doch Gottes Plan einer inneren Heilung war damit noch nicht abgeschlossen. Die Reise hatte gerade erst begonnen und sie führte über viele Stationen auch in die Mitarbeit bei team-f. Wer sich in der Seminararbeit bei team-f einbringt, weiß, dass ein Teil des Engagements das Referieren betreffen kann. Und so fand ich mich plötzlich vor einer Gruppe von Seminarteilnehmenden wieder, die mir ihr wohlwollendes Ohr schenkten. Ich referierte über meine Lieblingsthemen innerhalb der systemischen Familientherapie und verknüpfte diese mit persönlichen Beispielen. Das Sprechen fiel mir nicht leicht. Die Rückmeldungen und das Miterleben davon, wie Gott mich und meine Geschichte gebrauchen konnte, um anderen Menschen zu dienen, berührte mich jedoch zutiefst.

Rückblickend betrachtet haben sich hier viele Puzzleteile in ein großes Gesamtbild zusammengefügt.

Mein persönlicher, innerer Heilungsprozess war und ist auch mit der Entscheidung verbunden, mich von Gott gebrauchen und rufen zu lassen.

Darüber hinaus bedeutete es viel Reflexionsarbeit, alleine und mit mitfühlenden Menschen, meine negativen inneren Glaubenssätze zu erkennen und zu benennen. Sie in positive, befreiende Sätze, die mein himmlischer Vater über mir ausspricht, umzuwandeln und anzunehmen war keine leichte Aufgabe. Ich betrachte es als einen Prozess des Loslassens und Heilwerdens, der seine ganz eigene Zeit benötigte. Neue Denk- und Verhaltensmuster entstehen nicht von heute auf Morgen.

Auch heute tauchen die negativen Gedanken über mich hier und dort auf. Ganz besonders in Situationen, in denen ich mich herausgefordert fühle. Doch einer meiner positiven Glaubenssätze, der sich diesem verletzten Anteil meiner Innenwelt dann entgegen stellt, lautet: »Ich habe etwas zu sagen!« Mit Herzklopfen und ein bisschen Anlauf melde ich mich zu Wort!

Zur Autorin: Annika Marx (Jg. 1984) ist verheiratet mit Janis und Mama von zwei Kindern. Sie ist Diplom-Pädagogin und Systemische Familientherapeutin (DGSF) und arbeitet im Jugendamt mit Pflegefamilien und bei team-f als Fachbereichsleitung für Persönlichkeitsentwicklung. Freiberuflich ist sie als Systemische Beraterin und Familientherapeutin tätig (beratung-bergstrasse.de).

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