P E T R A M I S S
„Ich weiß jetzt, warum du so bescheuert bist!“
Ein Plädoyer für mehr Respekt und Grauzonen
Wie wollen wir miteinander umgehen? – Wir haben die Wahl, wie wir mit anderen im Gespräch sind.
Schonungslose Wahrheit
Als unsere Tochter im Kindergarten war, hat sie eine Zeitlang sehr gelitten unter einem Mädchen namens Ramona. Eines Morgens war sie unterwegs schon sehr traurig und erzählte mir, dass diese immer alles kaputt mache, was sie mit ihrer Freundin aufbaut. Sie war den Tränen nah und konnte einfach nicht verstehen, warum jemand so sein kann.
Es tat mir sehr leid, meine Kleine so traurig zu erleben. Ich wusste, dass Ramonas Familiensituation katastrophal war. Sie hatte in ihrem jungen Leben schon so viel Schmerz und Instabilität erlebt, dass sie eigentlich hauptsächlich damit beschäftigt war, die Aufmerksamkeit mindestens einer Erzieherin vollständig an sich zu binden.
In kindgerechten Worten versuchte ich, meiner Tochter zu erklären, dass Ramonas Eltern sich nicht so um sie und ihre Geschwister kümmern können, wie sie das kennt, dass oft niemand Zeit hat für sie und sie auch nie wirklich gelernt hat, wie man mit anderen Menschen umgeht. Unsere Tochter war auch in jungen Jahren schon sehr empathisch und nickte nachdenklich. Man sah, wie es in ihrem Köpfchen ratterte. Kurz war ich geneigt, mich für mein pädagogisches Feingefühl zu feiern. Sehr kurz...
Dann kamen wir im Kindergarten an, ich zog meinem Mädchen die Jacke aus und die Hausschuhe an, verabschiedete mich und war schon wieder auf dem Weg nach draußen, als ich ihre glockenhelle Stimme durch den Gruppenraum schallen hörte: „Ey Ramona, ich weiß jetzt endlich, warum du so bescheuert bist. Deine Eltern kümmern sich nicht richtig um dich!“
Mir gefror das Blut in den Adern. Der Kindergartenleiter kam aus seinem Büro, grinste mich an und fragte: „Na? Kleines Eltern-Kind-Gespräch gehabt?“
Mit der Kommunikation, das ist schon so eine Sache.
Als wir unseren Kindern beigebracht haben, dass sie die Wahrheit sagen sollen, da meinten wir, dass wenn sie etwas sagen, es wahr sein soll. Was sie verstanden haben war aber offenbar, dass jede Wahrheit sofort und ungefiltert ausgesprochen werden muss. Unsere Tochter war zu dem Zeitpunkt vier Jahre alt. Verzeihlich und im Rückblick auch ein bisschen lustig.
Bei uns Erwachsenen läuft das natürlich etwas anders. Nicht wahr? Wir können Situationen und die Folgen abschätzen, wissen, dass man andere mit Respekt behandelt, auch wenn man sie blöd findet, vermeiden Formulierungen, die offensichtlich verletzend sind. Ist es nicht so? Sind wir diplomatischer im Umgang miteinander?
Nach meinem subjektiven Empfinden hat es da in den letzten Jahren Werteverschiebungen gegeben und es scheint uns immer schwerer zu fallen, „den Nächsten“ so zu behandeln, wie wir selbst gerne behandelt werden würden (vgl. Matthäus 7, 12).
Wir nennen das Ehrlichkeit, lassen es aber an dem nötigen Respekt mangeln.
In einem Online-Artikel wird ein bekannter Fernseh-Koch kritisiert. In den Kommentaren entdecke ich Beiträge einer Frau aus meiner Gemeinde, die so gar nicht zu ihrem sonst so korrekten Auftreten passen wollen. Die vermeintliche Anonymität des Internets setzt offenbar eine gewisse Hemmungslosigkeit frei.
Wie wär’s mit grau?
Aber auch in persönlichen Begegnungen erhitzen sich schnell die Gemüter. Es scheint ein paar Reizthemen zu geben, bei denen man sich unbedingt auf einer Seite positionieren muss und wo besonnene Kompromisse und Andersdenkende schwer zu ertragen sind. Wir stecken uns gegenseitig in Schubladen, aus denen wir nur schwer wieder heraus kommen. Veganer oder Tierquäler? Impfbefürworter oder Querdenker? Gendern oder unbelehrbarer Konservativer? Karrierefrau oder Mutti? Feminist oder homophob? Als ob es immer nur zwei extreme Pole geben würde, nur noch schwarz oder weiß, keine Grauzonen mehr.
Die Themen sind wichtig und eine faire und offene Debatte wäre wünschenswert, aber das scheint in der heutigen Zeit immer schwieriger zu werden. Da fallen zum Teil Äußerungen von eigentlich wunderbaren Menschen, die haben noch nicht einmal Stammtischniveau. Studien gehen davon aus, dass bis zu 20 % der Personalkosten in Unternehmen für Konfliktmanagement verwendet werden müssen. Dramatisch für eine Volkswirtschaft und auch für die beschädigten Beziehungen.
Wenn man sich eine Meinung über eine Sache gebildet hat, dann neigt man dazu, nur noch Dinge zu sehen und Menschen ernst zu nehmen, die die eigene Meinung unterstützen oder vermeintlich belegen. Also jemand, der grundsätzlich gegen eine Fremdbetreuung bei Kindern unter drei Jahren ist, wird auch genau die Studien finden, die darin eine Gefährdung des Kindeswohls sehen. Und die, die dafür sind, finden eben Belege für die gegenteilige Position. Diese selektive Wahrnehmung ist ganz normal und menschlich.
Aber wie kommt es, dass Andersdenkende oft regelrecht als Feinde gesehen werden?
Happy End
Die kleine Ramona hat übrigens ziemlich gefasst auf die schonungslose Ehrlichkeit unserer Tochter reagiert. Sie hat einen kleinen Moment nichts gesagt und dann einfach nur „Stimmt.“ Also bei Vierjährigen scheint diese Art von Klartext manchmal angesagt zu sein. Uns Erwachsene möchte ich ermutigen, über die Art nachzudenken, wie wir miteinander umgehen wollen.
Gerade wir als Christen sind berufen, zu ermutigen, zu segnen, zu helfen und zu lieben.
Ja, manchmal auch zu ermahnen und den Finger in die Wunde zu legen. Aber die eine und allgemeingültige Wahrheit findet sich nur in Gott, nicht aber in den gesellschaftspolitischen Themen unserer Zeit. Lasst uns gelegentlich auch einfach mal die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass wir falsch liegen könnten.
Petra Miss
Petra Miß (48) ist verheiratet mit Christian und hat drei Kinder, zwei Schwiegerkinder, zwei Herzenskinder und ein Enkelkind. Sie leitet das Team.F Hauptbüro und bringt mit ihrer erfrischend ehrlichen Art immer wieder brisante Themen auf den Punkt und ein Schmunzeln ins Gesicht.