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S I L J A   L Ü B E N   U N D   U S C H I   P R E S S A R A

Wenn das Zuhause von der Flut zerstört wurde

Einblick in die Seelsorgearbeit im Ahrtal

Die Flutkatastrophe im Juli 2021 im Rheinland, besonders im Ahrtal, ist eine der schlimmsten Katastrophen der deutschen Nachkriegsgeschichte – sowohl, was das Ausmaß der Zerstörung als auch die große Zahl der zu beklagenden Toten angeht. Während die Medien sich längst wieder anderen Themen widmen, kämpfen die Betroffenen weiter mit den verheerenden umfassenden Auswirkungen und Folgen der Katastrophe. Zwei Seelsorgerinnen berichten von ihrer Arbeit vor Ort.

Viele haben alles verloren – ihre Wohnungen und Häuser, ihre Existenzen oder Jobs, die Erinnerungen an die letzten Jahrzehnte ihres Lebens, ihre Dokumente (Identitätskarten, Ausbildungsnachweise, Geschäftsunterlagen), ihre Mobilität ...

Körperliche und geistige Erschöpfung
Nach Monaten des schweren, täglichen Schuftens sind viele Betroffene nun total erschöpft – vor allen Dingen körperlich und geistig. Zu viele Dinge galt es zu bearbeiten und zu durchdenken, Tag und Nacht. Viele mussten wochenlang ohne Strom und Wasser in ihren Häusern ausharren, wohnen auf engstem Raum in den oberen Etagen zusammen oder haben irgendwo weit entfernt oder überteuert eine Ferienwohnung anmieten müssen. Selbst alltägliche Dinge wurden oft zu Herausforderungen, weil die komplette Infrastruktur zerstört war und teilweise immer noch ist – Straßen, Bahngleise, Wasser-, Strom-, Gasleitungen, Schulen, Kitas, Lebensmittelläden ... Aber auch Freizeiteinrichtungen wie Cafés, Restaurants, Sporteinrichtungen etc. gibt es nicht mehr.

Während die meisten Häuser inzwischen entkernt und in den Rohbauzustand zurückversetzt wurden, warten die Betroffenen nun auf Handwerker. Die ungemütliche und kühle Jahreszeit trägt ebenfalls dazu bei, dass der psychosoziale Bedarf der Betroffenen exponentiell wächst. „Erst jetzt kommen Traumata an die Oberfläche und die Betroffenen fangen an zu realisieren, was passiert ist.“

Viele haben oder entwickeln Symptome wie Schlaflosigkeit, Panikattacken bei Regen sowie Albträume und viele weitere.

Großer Bedarf an seelsorgerlicher Hilfe
Aufgrund meiner (fast) täglichen Arbeit im Gespräch mit Betroffenen kann ich sagen, dass wirklich alle Menschen im Ahrtal in irgendeiner Form traumatisiert sind – natürlich mit unterschiedlichem Schweregrad. In den vergangenen knapp vier Monaten haben wir „aufsuchende Seelsorge" betrieben, indem wir als Zweier-Teams von Haus zu Haus gegangen sind, um den Bedarf an praktischer Hilfe zu erfragen oder die Betroffenen mit Kaffee und Kuchen zu erfreuen und darüber dann mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.

Fast immer kam es an irgendeinem Punkt zu Tränen und es war eine immense Offenheit da, Gebet zu empfangen.

Sehr oft durften wir erleben, wie wir „am richtigen Ort zur richtigen Zeit“ waren. Ein Beispiel: Wir waren gerade dabei, von Haus zu Haus zu gehen, als ich eine ältere Dame wahrnahm, die etwas unsicher auf ein Haus zuging. Ich sprach sie an und es stellte sich heraus, dass in diesem Haus die beste Freundin dieser Dame ertrunken war und sie eine Kerze für sie anzünden wollte. Sie erzählte uns, wie schwer ihr dieser Gang gefallen war. Nach einem seelsorgerlichen Gespräch schlug ich vor, gemeinsam mit ihr zu beten und die Kerze anzuzünden. Die Dame hat sich sehr bedankt und sagte, dass es ihr sehr gut getan habe und es ihr nun viel leichter um‘s Herz sei. Unzählige solcher Geschichten hat Gott in den vergangenen Monaten geschrieben.

Um den seelischen und geistlichen Nöten der Menschen längerfristig begegnen zu können, haben wir inzwischen ein Netzwerk von qualifizierten Seelsorgern und Therapeuten aufgebaut, die in der Umgebung wohnen und sich regelmäßig einbringen, um Beziehungen zu den Betroffenen aufzubauen.

Silja Lüben

Silja Lüben leitet das Seeslorge-Netzwerk Ahrtal im Auftrag von Ev. Allianz Bonn und Hoffnungswerk. Sie kam kurz nach der Flut ins Rheinland, wo sie seither zum Aufbau des Seelsorge- Netzwerkes ihren Lebensmittelpunkt hat.


Ein Lieblingsort, welcher keiner mehr ist!

„Hier war alles so schön!“
„Es wiederholt sich immer der gleiche Film!“
„Ich hatte hinter dem Haus mein Versteck, jetzt ist es weg!“

Dies sind Sätze von drei Mädchen in unterschiedlichem Alter. Ihr großes Haus, umgeben von Feldern, Wiesen, Stallungen, Tieren und einem Teich vor der Terrasse, steht leer. Nackte Wände, offener Fußboden, das Inventar, alles fort. Es wird versucht weiter zu leben. Erst im Wohnwagen, dann in einer Wohnung ohne Heizung, ohne Küche und mit Matratze auf dem Boden.

Der Überlebenskampf, der Rückweg in die Normalität, ist steinig.

Wären da nicht die Albträume. Mama und Papa, welche versuchen, manches unter die Füße zu bekommen. Fremde Menschen die helfen und vor Ort übernachten. Die Enge. Andere Abläufe im Alltag. Der Regen, welcher die Schrecken der Nacht vom 14. Juli 2021 wieder zum Vorschein bringt und erschrocken innehalten lässt und so vieles mehr…

Diese Familie und viele andere Flutopfer haben ein psychisches Trauma erlebt. Dann sprechen wir davon, dass eine Situation erlebt wurde, in der Leib und Leben gefährdet war, in der man überwältigt und erschreckt wurde und das Gefühl hatte, nichts tun zu können. Diese außergewöhnliche Bedrohung hat die Flut im Ahrtal und in der Eifel hervorgerufen.

Meine Begegnung mit dieser Familie hat gezeigt, wie die Mädchen sich jedes Mal freuen, wenn ich zu ihnen komme. Ich bin für sie da, höre zu, unterstütze die Eltern, dadurch entsteht Stabilität und aufkommende Konflikte werden besprochen und gelöst. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass unverarbeitete Verletzungen der Eltern mit hoch kommen. Diese vermischen sich gefühlsmäßig und verstärken das Erlebte. Bei einem Gang über das Grundstück haben mir die Mädchen, jedes einzeln, ihren Lieblingsort gezeigt. Gott kümmert sich liebevoll. Er hat kleine Überraschungen, welche die Mädchenherzen erfreut haben, geschenkt.

Diese Familie braucht noch viel Hilfe beim Haus- und Grundstücksaufbau, bei staatlicher, behördlicher und gutachterlicher Unterstützung, Geduld und Weisheit bei der Aufarbeitung des Erlebten – genauso wie viele andere Familien, Einzelpersonen, Ehepaare oder andere Lebensgemeinschaften. Ich unterstütze die Menschen durch die seelische Begleitung, um das traumatische Erlebnis gemeinsam so zu verarbeiten, dass es einen guten Platz im Leben haben darf. Auch dafür sind finanzielle Mittel gesichert und können in Anspruch genommen werden. Nicht nur der praktische, sondern auch der geistige Wiederaufbau ist von großer Bedeutung!

Uschi Pressara

Uschi Pressara ist Notfallseelsorgerin für die Eifel. Sie lebt in Mechernich und arbeitet als Lebens- und Sozialberaterin. www.lebensberatung-up.de