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H E I D I   G O S E B E R G

Zwischenzeiten 

Rituale erleichtern die Übergänge

Romano Guardini (Religionsphilosoph und Theologe) bezeichnet diese Zwischenzeiten zwischen den Lebensphasen als Krisen: „Eine Lebensphase ist noch in ihrer Kraft, eine andere drängt vor und bringt sich zur Geltung – das Neue muss sich gegen das Bisherige durchsetzen.“

Übergänge wie die Pubertät, der Eintritt ins Erwachsenenalter, in die Partnerschaft, in die Familienzeit, dann als Paar wieder ohne Kinder ...

Vor allem der Wechsel in den Ruhestand wird als krasser Umbruch und Einschnitt ins Leben empfunden.

Nach vielen Jahren Erwerbstätigkeit erleben viele einen Verlust, begleitet vom Gefühl „nicht mehr gebraucht zu werden“, es nagt am Selbstwert und man steht vor der Herausforderung, die nächsten Jahre neu zu gestalten und gut zu füllen. Viele Menschen, die zuvor den Ruhestand herbeigesehnt haben, werden kalt erwischt und nicht wenige landen in einer depressiven Phase.

Die Kraft der Rituale
Erst in den letzten Jahren bekam dieses Thema wieder neue Aufmerksamkeit und Bedeutung in vielen Zusammenhängen. Rituale (praktische und schöne) strukturieren unser Leben, sie vermitteln uns im Alltag Gefühle von Konstanz und Sicherheit, sie stärken den Zusammenhalt. Sie begleiten uns in den Auf’s und Ab’s unseres Lebens und helfen uns, emotional ausgeglichen zu leben.

Vor allem helfen Rituale bei der Bewältigung von Krisen und Veränderungen und geben Halt und Geborgenheit.

In einer Ablösung und Neuorientierung können Rituale den Verlust, das Loslassen und sich neu finden gut begleiten.

Es sind die vertrauten Gewohnheiten, die uns ein Gefühl von Sicherheit geben,

die das Leben weitergehen lassen. Wir kennen das: Augen zu und weitermachen, bis die Krise überstanden ist und man wieder festen Boden unter den Füßen fühlt.

Unser schönstes Familienritual war unser wöchentlicher Familienabend: Donnerstagabends trafen wir uns zu einem schön gestalteten Essen, oft mit Programm danach. Als in einem Jahr unsere Eltern im Haus kurz hintereinander verstarben und unsere drei Töchter auszogen, standen wir ziemlich verlassen da. Einerseits standen wir vor der Aufgabe, eine Perspektive für uns beide zu entwickeln, andererseits die Beziehungen zu unseren Kindern neu zu ordnen. Dabei half uns das Ritual aus unserer Familienzeit. Die haben wir nun sonntags, manchmal schon zum Kaffee und auf jeden Fall beim Abendbrot. Immer locker – wer da ist, kommt. Dazwischen haben die Familien Zeit für sich. Zum Abendessen kochen wir. Meistens (außerhalb von Corona) haben wir mehr als zehn Leute am Tisch. Wir haben den Rahmen gegeben, uns als Familie zu treffen, die Kinder sind nach dem Auszug gute Freunde geblieben, die Enkelkinder freuen sich, sich zu treffen und wir möchten, so lange es geht, an dieser schönen Tradition festhalten. Gastfreundschaft ist für uns ein hoher Wert – und was für ein schönes Familienerbe!

Dies war es dann auch, was wir zu Beginn des ersten Lockdowns im vergangenen Jahr schmerzlich vermissten. Alle waren unsicher. Die Enkelkinder waren angehalten, Oma und Opa im Haus nicht zu gefährden. Wenn wir uns draußen im Garten zufällig über den Weg liefen, machten sie einen großen Bogen um uns – völlig skurril, die ganze Situation. Wie schön, dass das Wetter es gut mit uns meinte und wir tatsächlich im März schon Draußen-Wetter hatten!

Kurzerhand haben wir sonntagsnachmittags auf unserem großen Balkon das „Großeltern-Café“ eröffnet. Geschickt verteilt auf alle vier Ecken konnten wir uns doch sehen und miteinander reden und Spaß haben.

Inzwischen sind die Maßnahmen – viel diskutiert und angegriffen – doch etwas konkreter. Wir dürfen uns mit einer Familie treffen und genießen das. Und wir möchten gerade während einer schnell wechselnden Infektionslage nicht in der Haut der Entscheidungsträger stecken. Gleich wie sie entscheiden, für eine Menge von Menschen machen sie es falsch.

Wir sind so dankbar, bisher nicht ernsthaft erkrankt zu sein und freuen uns über das, was geht. Sehr dankbar auch, dass wir so viele Jahre von Krieg, Katastrophen und Epidemien verschont leben konnten. Unser letztes Jahr in der Anstellung bei TEAM.F hatten wir uns definitiv anders vorgestellt, doch trifft dies in unterschiedlichen Ausprägungen alle Menschen weltweit. Was uns bleibt, ist zu beten, uns rücksichtsvoll zu verhalten und zuversichtlich und vertrauensvoll in den nächsten Tag, die nächste Woche und die nächste Zeit zu gehen – auch in den Ruhestand!

Ihre Heidi Goseberg