Die Macht der Manipulation
Kennen wir das nicht alle? Es ist uns unangenehm, wenn wir etwas dringend brauchen oder möchten und der andere das einfach nicht will. Das passiert uns immer wieder und gehört zum normalen Alltagserleben dazu. Spannend ist die Frage, was dann passiert. – Wie gehe ich damit um, wenn der andere nicht meinen Bedürfnissen oder meinem Willen entsprechend reagiert?
Natürlich hängt die Antwort auf diese Frage auch davon ab, wer wir beiden sind. Eine Mama und ihr Kind reagieren anders als die zwei Partner einer Ehe. Zwischen gleichberechtigten Kollegen wird es anders ablaufen als zwischen dem Vorgesetzten und seinem Mitarbeiter. Und trotzdem wird in allen Beziehungen die Frage mitschwingen, ob und wie ich meinen Willen durchsetze.
In den meisten Fällen entwickelt sich Manipulation unbewusst als Vermeidungsstrategie: Weil es mir Schmerz oder Nachteile bringt, wenn der andere nicht meinem Willen entspricht, suche ich nach Wegen, ihn oder sie doch noch dazu zu bringen. Wer nicht genau hinschaut, könnte jetzt sagen »Na wunderbar, du hast einen Weg gefunden, zu deinem Willen zu kommen.« und mir gratulieren. Aber das entspricht leider nicht der Realität. Ich habe zwar den befürchteten Schmerz oder Nachteil vermieden, die Beziehung zum anderen aber stark belastet. Geschieht das wiederholt, wird sich die Beziehung konflikthaft gestalten und zwar unabhängig davon, um welche Art von Beziehung es sich handelt. Außerdem wird derjenige, der sich als der Manipulierte erlebt, natürlich noch ganz anders denken. Er ist ja derjenige, dessen Bedürfnisse und Wünsche nicht berücksichtigt werden und der sich in der Manipulation als entwürdigt und benutzt erlebt.
Schauen wir uns die Abläufe der Manipulation mal genauer an, bevor wir überlegen, welche alternativen Interaktionswege unterstützend für Beziehungen sein können.
Wie macht er/sie das nur?
Manipulation heißt immer, dass ich einen Menschen gegen seine Einwilligung zu einer Handlung, einem Gefühl oder Gedanken zwinge. (Vielleicht schon mal hier vorweg: gesunde Pädagogik leitet Menschen jeder Altersstufe an, Verhalten und Erleben in würdevollen Beziehungsabläufen zu verändern. Doch dazu später mehr…)
Zurück zur Manipulation: Wenn wir merken, dass wir einen bestimmten Zustand, ein Verhalten oder ein Erleben beim anderen manipulieren möchten, stehen uns verschiedene Wege offen.
Wir können dem anderen alles Mögliche versprechen oder wir können ihn über die genauen Inhalte der Situation konkret täuschen. Beides könnte dem Interaktionspartner das irrtümliche Gefühl geben, es wäre für ihn die bessere Variante, unseren Vorgaben zu folgen. Eine andere Möglichkeit wäre es, von uns aus den gewünschten Zustand herzustellen und ihn trotz Protest des anderen immer wieder zu erneuern. In manchen Fällen gewöhnt sich der andere an die unangenehme Situation oder verliert die Kraft oder Motivation, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
In vielen Fällen nutzt der Manipulierende auch bestehende Abhängigkeiten aus, um zu seinem Willen zu kommen.
Je intensiver der Manipulierte den Manipulierenden braucht – emotional, finanziell, lebenspraktisch, etc. – desto eher wird er sich dessen Willen beugen, auch wenn es nicht seinen Interessen oder seiner Meinung entspricht. Der einschneidenste Weg der Manipulation ist es, Gewalt anzuwenden, um die eigene Idee umgesetzt zu sehen. Dabei kann es sich um körperliche Gewalt, emotionale Abwertung, sexuelle oder sonstige Drohungen handeln. Es entsteht dabei immer ein Raum der Entwürdigung: Der mit Gewalt Manipulierte verliert zunehmend die persönlichen Freiheiten und seine Bedürfnisse und Wünsche werden immer mehr missachtet.
Sicher fällt dir die Art, wie ich das beschreibe auch schwer: Die Ich-Perspektive lässt uns schaudern, weil wir merken, wie sehr die Perspektive des Manipulierenden die persönlichen Grenzen des Manipulierten missachtet.
Beispiel: Sina ist Gemeindeleiterin. Sie hat den Hörer noch in der Hand. Gerade hat Tim sie angerufen und ihr für das Gemeindeevent abgesagt. Er und seine Frau hatten sich bereit erklärt, den Getränkestand zu betreuen. Jetzt zwei Tage vor der Veranstaltung haben die beiden einen Todesfall in der Familie. Es ist verständlich, dass sie nicht kommen können. Aber wer soll es sonst machen? Sofort fällt Sina Emilia ein und ebenso unmittelbar hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie weiß, dass Emilia alles macht für die Anerkennung der Mitglieder der Gemeindeleitung. Irgendwie ist sie jemand, der sehr stark abhängig davon ist, von Leitenden gemocht zu werden. Schon oft war es so, dass sie auf diesem Weg Aufgaben übernommen hat, die weit über ihre Belastungsgrenzen gegangen sind. »Was soll ich nur machen?«, denkt Sina. »Wenn ich Emilia anrufe, habe ich eine schnelle, aber eigentlich unmögliche Lösung. Wenn ich die Anfrage in den Gemeindechat schreibe, kann sein, dass ich nicht so schnell eine Lösung finde…«
Wieso passiert mir das immer?
Die von Manipulation betroffenen Menschen sind oft erschrocken über ihre eigene Reaktion. Sie fragen sich, wie es sein kann, dass andere Menschen sie zu Handlungen, Gefühlen oder Gedanken bringen, die sie vielleicht einerseits nicht wollen und andererseits eventuell im Nachgang bereuen. Wenn wir uns die Situationen näher betrachten merken wir oft, dass sie Ereignissen der eigenen Lebensgeschichte ähneln.
Das, was wir in unserer Prägung erlebt haben, hinterlässt in uns Gewohnheitsspuren und wir neigen schneller dazu, gleiche Abläufe zuzulassen.
Es kann natürlich auch sein, dass es Bedürfnisse in uns gibt, die aktuell nicht auf natürlichem Weg versorgt werden (z. B. Zuwendung, Entspannung, Sexualität, etc.) und die uns in Versuchung bringen, das manipulative Spiel mitzuspielen. Nicht selten ist es aber auch so, dass wir bestimmte Gefühle in unserem Leben vermeiden möchten und deshalb keine Grenzen setzen, damit es sich nicht akut schlecht anfühlt.
Manchmal ist es Menschen auch nicht ganz klar, was ihre Rechte sind oder welche Alternativen zu einem Interaktionsablauf in Frage kämen. Besonders in Reifungsübergängen (z. B. Pubertät, Eltern werden, Pensionierung) braucht es Zeit und oft auch ein wenig Unterstützung, die eigenen Möglichkeiten kennenzulernen.
Beispiel: Tom seufzt. Sein Sohn Silas (16) hat ihm eine WhatsApp geschrieben, in der er ihn auffordert, ihn bei seinem Freund abzuholen. Eigentlich ist Tom mitten in der Vorbereitung für seine Steuererklärung und eigentlich haben sie in der Familie auch die Absprache, dass Bring- und Abholaufgaben mindestens einen Tag vorher besprochen sein müssen (wenn kein Notfall vorliegt). Tom legt seinen Kugelschreiber weg und greift nach dem Autoschlüssel. Silas kann so furchtbar meckrig und nachtragend sein, wenn er seinen Willen nicht bekommt. Das ist für Tom schwierig auszuhalten. »Hm, egal«, denkt Tom. »Ich hole ihn jetzt einfach ab, dann habe ich hinterher keinen Ärger.«
Jetzt haben wir uns beide Seiten angeschaut: warum wir manipulieren und warum wir manipuliert werden. Unmittelbar daraus ergibt sich die Frage, was wir tun können, um aus Manipulation auszusteigen…
Der Weg der Eigenfürsorge und Klarheit
Am wichtigsten ist sicher, dass wir Entwicklungsschritte gehen, damit wir selbst nicht mehr manipulierbar sind. Dazu ist es schon hilfreich, wenn wir besser einschätzen können, wo und wodurch wir manipuliert werden. Aber darüber hinaus ist es natürlich wichtig, die »Einfallstore« zu verändern. Dazu sind wir herausgefordert, unsere Bedürfnisse kennenzulernen und es nicht mehr dem Zufall oder dem anderen zu überlassen, wie diese versorgt werden. Das klingt einfacher, als es im Alltag ist. Denn dazu müssen wir lernen, in der Zeit, in der unsere Bedürfnisse aktuell (noch) keine Versorgung finden, die entstehenden unangenehmen Gefühle auszuhalten. Wenn ich merke, dass mir z. B. Anerkennung fehlt und ich nicht auf die Schnelle jemanden finde, der mir ein positives Feedback gibt, ist es schwieriger, einem Manipulationsversuch auf dieser Ebene zu widerstehen.
Sinnvoll ist es auch, mich damit auseinander zu setzen, wer ich bin und sein will. Dazu gehört, meine ethischen Grenzen, meine Vorlieben und Abneigungen, meine Stärken und Schwächen zu kennen und zu lernen, gut mit dem umzugehen, wie ich bin.
Beispiel: Antonia (22) kann kaum glauben, was Melanie (24) gestern gesagt hat: »Wenn du nicht mit uns in den Club kommst, bist du ’ne volle Lusche. Wie kann man sich so anstellen?« Schon die ganze Nacht haben die Worte in ihr nachgehallt. Die Freundschaft mit Melanie ist ihr extrem wichtig. Aber die laute Musik, der Alkohol und die Drogen in dem Club schrecken Antonia ab, dort ihre Freizeit zu verbringen. Jetzt ist sie in einer Zwickmühle. Sie merkt selbst, wie wichtig es ihr ist, dass ihre Beziehung zu Melanie in Ordnung ist. Was kann sie tun? »Vielleicht versuche ich mal, in Ruhe mit Melanie darüber zu sprechen, wie wichtig mir unsere Freundschaft ist und wie unangenehm es mir in dem Club ist. Hoffentlich finden wir eine Lösung…«
Alle diese Schritte können sehr viel leichter gegangen werden, wenn es eine gesunde Verbundenheit zu Gott und Menschen in meinem Leben gibt, die mir Sicherheit und genug Raum für Entwicklung geben.
Der Weg der Gewaltfreiheit
Auf der anderen Seite sind wir auch aufgefordert, einen Weg zu finden, selbst nicht mehr zu manipulieren. Es gilt zu lernen, den anderen frei zu lassen und ihn oder sie in ihren Möglichkeiten, Ansichten und Entscheidungen zu akzeptieren. Dazu braucht es manchmal auch eine Entscheidung in uns, keine Gewalt mehr anzuwenden – weder in unseren Bewertungen, noch in unserem Verhalten.
Beispiel: Simon ist Hauskreisleiter. Er hat schon ganz oft gedacht, dass er sich da eine ganz schön herausfordernde Aufgabe gesucht hat. Im Moment haben sie ein echtes Problem mit Verbindlichkeit. Die einen kommen später, die anderen gehen früher. Das bringt viel Unruhe in den gemeinsamen Hauskreisabend. Er hat das mit dem Gemeindeleiter besprochen, der ihm geraten hat, das mit allen offen anzusprechen. Das hat eigentlich auch gut geklappt. In der Folge hat es sich deutlich verändert und die meisten Hauskreismitglieder geben sich alle Mühe, trotz ihrer jeweiligen Situation die Hauskreiszeiten einzuhalten. Das hat Simon echt erstaunt und gefreut. Schwieriger ist es mit Andreas, der kommt weiterhin, wann er will. Gestern Abend ist er wieder ganze 45 Minuten zu spät gekommen und dann auch noch störend in die Lobpreiszeit geplatzt. Da hat es Simon gereicht: Er hat Andreas mit bissigen Nebenbemerkungen vor allen zur Rede gestellt. Daraufhin ist Andreas wortlos aufgestanden und nach Hause gegangen.
Das geht Simon jetzt nach. Auf der einen Seite ist es wirklich für alle schwierig, dass Andreas sich nicht an die Absprachen hält. Andererseits wird Simon heute klar, dass seine Art, ihn zu konfrontieren, Andreas bloßgestellt hat. »Oh, Herr«, betet Simon »hilf mir, einen Weg zu finden, auf Andreas zuzugehen und einen guten Umgang mit ihm zu finden…«
Es ist Gottes Wunsch, dass wir als mündige und freie Menschen in wertschätzende Beziehungen wachsen, in denen jeder von uns sich geachtet erlebt.
Es lohnt sich, an diesem Ziel gemeinsam zu arbeiten. Das ist natürlich leichter, so lange uns die Handlungen der anderen gefallen. Schwieriger wird es, wenn wir Entwicklungen als gefährdend sehen oder vielleicht sogar pädagogische Verantwortung für den anderen tragen. Dann müssen wir uns aufmachen und einen Weg des Gewinnens suchen, der bewusst auf Gewalt verzichtet. Das lässt sich natürlich jetzt hier in den wenigen Zeilen nicht ausführlich darstellen, aber es geht darum, sich zu überlegen, wie ich den anderen unterstützen könnte, neue Verhaltensweisen zu erlernen und auch, wie ich konkret ermutigend in der Begegnung sinnvolles Verhalten stärken könnte.
Mir ist gerade dazu auch wichtig, dass es sinnvoll ist, gesunde Autorität für die Bereiche zu erlangen, in denen wir konkrete Erziehungs- und Leitungsaufgaben haben. Auch in diesen Bereichen trägt Manipulation nicht zu gesundem Wachstum bei, sondern fördert Abhängigkeit und Angst. Wenn wir Menschen der verschiedenen Altersgruppen in Verhaltensveränderungen oder in Gruppenprozessen begleiten wollen, muss sich unser Verständnis von Autorität so verändern, dass uns der Begleitete Vertrauen entgegenbringen kann und uns ein Mandat gibt, Reifungsimpulse in sein Leben zu geben. Dann kann es auch Spaß machen, den anderen auf seinem Lernweg zu begleiten.
Mein Herzenswunsch ist es, dass wir beharrlich an diesen Grundideen Gottes in unseren Gemeinschaften dranbleiben. Auch wenn wir zwischendurch frustriert bemerken, dass sich Manipulation wieder zeigt, lohnt es sich immer wieder neu, Raum zu schaffen für die Entwicklung von Mündigkeit, Würde und echten Beziehungen.
Zur Autorin: Katrin Kroll ist Erzieherin und hat an der IGNIS-Akademie Christliche Psychologie studiert. Sie arbeitet psychotherapeutisch mit Kindern, Jugendlichen und Familien und bildet Seelsorger und Berater im Kinder- und Jugendbereich aus. Als Supervisorin unterstützt sie außerdem Schulen, Kitas und pädagogische Einrichtungen.