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Kontaktabbruch für immer!

Der Schmerz verlassener Eltern

Die Autorin ist der Redaktion bekannt.

An einem warmen Spätsommertag saßen mein Mann und ich beim Italiener. Unbeschwerte Urlaubstage lagen hinter uns. Hey, das Leben kann so schön sein! Dann kündigte ein Klingelton den Eingang einer Mail an. Mit großen Lettern stand in der Betreffzeile: SCHLUSSSTRICH. Die Absenderin war unsere Tochter.

Ihre Mail war die ultimative Ankündigung, dass sie keinen Kontakt mehr mit uns will – lebenslänglich nicht mehr! Der folgende Mail-Text war aggressiv, anklagend und vorwurfsvoll formuliert. Sie konfrontierte uns Eltern mit etlichen Beispielen aus unserem früheren Familienalltag. Fassungslos lasen mein Mann und ich die Nachricht. Wir waren außer uns vor Schmerz und stammelten Stoßgebete zum Himmel…

Entsetzen und Gefühle des Ausgeliefertseins fluteten uns. Trauer und Wut setzten sich in uns fest, verbunden mit dem Aufschrei:

»Warum wir? Waren wir wirklich so furchtbare Eltern?«

Wie sollten wir denn jetzt weiterleben? Der Alltag musste ja irgendwie weiter gehen. Tagsüber lenkte uns die Arbeit ab, aber abends kamen die Tränen mit voller Wucht zurück. Immer wieder lasen wir diese Anklagemail. Wir analysierten jedes Detail. Ja, wir hatten Fehler gemacht, unsere Tochter aber auch um Vergebung gebeten.

Rückblick
Unsere Tochter ist eine sehr feinfühlige, hochsensible junge Frau. Seit Kindheit zeigte sich ihr introvertiertes, liebevolles Wesen. Sie war vom Kleinkindalter an sehr fantasievoll, hilfsbereit und neugierig, zog sich aber auch gerne zurück und spielte alleine. Die Schule machte ihr meistens Freude und das Lernen fiel ihr leicht. Freundinnen zu finden war dagegen nicht einfach für sie.

In ihrer Mail berichtete sie von einer schweren seelischen Krise, die sie schon mit etwa 12 Jahren durchlitten hatte. Leider hatten wir Eltern davon nur wenig gemerkt, denn sie machte ihre Probleme und Nöte meistens mit sich selbst aus.

Als wir Eltern eine Ehekrise durchlebten, litt sie mit uns mit. Ebenso die Arbeitslosigkeit meines Mannes und die jeweiligen schweren Erkrankung von uns beiden waren für sie kaum zu ertragen. Oft hatten wir bei Tisch, in ihrer Gegenwart, über unsere Alltagsprobleme gesprochen. Aus heutiger Sicht glauben wir, dass sie sich davon nicht abgrenzen konnte und unsere Lasten mit auf ihr Herz nahm.

In dieser Zeit holten wir uns als Ehepaar Hilfe bei Beratern von team-f. Unsere Ehe stabilisierte sich wieder und als Familie begannen wir, unseren Glauben ganz praktisch zu leben, indem wir alle Probleme gleich im Gebet zu Gott brachten, ebenso unseren Dank! Unsere Kinder waren hier mit wachsender Begeisterung dabei. Beide hatten sich für ein Leben mit Jesus entschieden, was uns sehr freute.

Unsere Tochter nahm Unterstützung in Anspruch und ihr Lebensmut kehrte offensichtlich zurück. Sie heiratete einen Mann, mit dem sie sehr glücklich war. Nach vier Jahren wurde unser erster Enkel geboren. Wir freuten uns so sehr über den Kleinen, der trotz einer schwierigen Geburt und Corona-Umständen gesund und munter war. Endlich waren wir Großeltern – wir freuten uns über die junge Familie und genossen die Stunden miteinander.

Etwa zwei Monate nach der Geburt konfrontierte uns unsere Tochter mit Vorwürfen. Wir trafen uns mit ihr zur Aussprache. Nachdem sie uns in vielen Punkten heftig anklagte, baten wir sie um Vergebung. Nun schien alles wieder gut zu sein… Dies war leider eine große Fehleinschätzung unsererseits. Per Mail teilte sie uns daraufhin eine Kontaktpause auf unbestimmte Zeit mit. Da hegten wir noch die Hoffnung, dass diese Maßnahme temporär wäre.

Dann erhielten wir nach einem knappen Jahr die Schlussstrich-Mail.

Wie gingen wir mit dieser Situation um?
Wir nahmen therapeutische Hilfe in Anspruch. Zusätzlich besuchten wir mehrmals eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern. Hier konnten wir unsere Traurigkeit und Hilflosigkeit teilen und erlebten andere Eltern, die ähnliches erlebt hatten. Nur gab es hier auf Dauer keinen wirklichen Trost mit einer Perspektive.

Wir waren ja nicht nur verlassene Eltern, sondern auch Großeltern ohne Enkel. Das Leben fühlte sich so sinnlos und leer an. Verzweifelt fragte ich Gott, warum er uns denn überhaupt Kinder geschenkt hatte, wenn wir doch so fehlerhafte Eltern waren. Da kam seine prompte Antwort in mein Herz: »Ich mache keine Fehler!« Er vertraute uns zwei wunderbare Kinder an, obwohl er unsere Schwächen sehr gut kennt. Das war ein großer Trost für mich.

Ein wichtiger Schritt für uns als verlassene Eltern war, unserer Tochter zu vergeben. Dies war uns aber erst nach längerer Zeit möglich. Gott heilte in unseren Herzen die Wut und Verbitterung, die wir unserer Tochter gegenüber empfunden hatten. Falls sie irgendwann wieder vor unserer Türe stehen sollte, wollen wir ihr unvoreingenommen begegnen können. Wir hoffen, dass unser Enkel eines Tages nach seinen zweiten Großeltern fragen wird und uns kennenlernen möchte. Zaghafte Kontaktversuche von uns (Mail, Postkarte) blieben unbeantwortet.

Inzwischen sind fünf Jahre vergangen. Insgesamt habe ich eine vierjährige Trauerphase hinter mich gebracht. Mein Mann trauerte natürlich mit mir, aber anders als ich.

Glaube auf dem Prüfstand
In dieser Zeit kämpfte ich oft mit den Tränen und ertrug es kaum, wenn meine Nachbarin mit ihren Enkelkindern im Garten spielte. Ich klagte Gott an, dass er nicht eingriff. Ich konnte lange Zeit den Ist-Zustand der Trennung nicht annehmen. Der Verlustschmerz manifestierte sich in meinem Herzen. Zusätzlich kamen bei mir etliche meiner Glaubensüberzeugungen auf den Prüfstand: Wenn ich tatsächlich Gottes geliebte Tochter bin, wieso lässt er mich und meinen Mann so leiden? Gott könnte eingreifen und ein Wunder tun – aber er tut es bisher nicht. Manches Lobpreislied im Gottesdienst wurde mir zur Anfechtung und ich stellte generell meine gesamte Haltung gegenüber Gebetserwartungen in Frage. Wann oder warum wird ein Gebet erhört? Gehört Leid generell zum Glaubensleben dazu? Geht es nicht auch anders? Wo ist denn für uns das versprochene Leben »in Fülle«?

Die Traurigkeit hatte meinen Mann und mich fest im Griff, aber im Laufe der Zeit schweißte uns beide dieses Erleben immer fester zusammen.

Wir flüchteten mit unseren Tränen zu Gott und durften dabei viel Herzenstrost erleben.

Es veränderte sich zwar nichts an der Trennungssituation, aber im Laufe der Monate wuchs langsam der Friede über diesen Schmerz in unseren Herzen.

Vergangenes kommt hoch
Die gesamte Situation hatte auch noch andere Auswirkungen. So kam beispielsweise die große Einsamkeit, die ich in meiner Kindheit und Jugend erlebt hatte, wieder hoch und übermannte mich. Deswegen holte ich mir seelsorgerliche Hilfe und lernte durch ein Trauer-Kinderbuch, dass der Schmerz einen Platz in meinem Leben zugewiesen bekommen muss. Er wird zwar in Zukunft immer da sein, aber mich nicht mehr übermannen dürfen. Dieser Schmerz wohnt in einem (fiktiven) Neben-Zimmer, dessen Türe geschlossen ist. Manchmal geht diese Türe unvermittelt auf und der Schmerz kommt heraus, aber mit Jesu Hilfe bringe ich ihn wieder ins Zimmer zurück. Im Laufe der Jahre wurde der Schmerz erträglicher. Mein Fazit: Ich musste lernen, mit dem Schmerz und der Traurigkeit zu leben.

Ganz bewusst fingen mein Mann und ich an, schöne Dinge in unser Leben einzubauen: gutes Essen kochen, Ausflüge machen, uns gegenseitig humorvolle Texte vorlesen, liebe Freunde treffen, lustige Filme schauen… Und wieder Dankbarkeit für die vielen guten Dinge, die uns Gott schenkt, ins Leben zu lassen. Gleichzeitig halten wir uns an unserem himmlischen Vater fest, wenn doch die Traurigkeit wieder mal im Herzen aufsteigt. Er schenkt uns seinen Frieden sofort, wenn wir darum bitten.

Wir dürfen wieder neue Schwerpunkte in unserem Leben setzen und empfinden wieder Freude und Lebensmut. Sehr dankbar sind wir für die vielen betenden Freunde, die uns geduldig (und ohne Ratschläge!) durch die schweren Zeiten durchgetragen haben. Was für wertvolle Schätze.

Im Rückblick können wir sagen, dass wir trotz der Schwere der Situation, daran glauben, dass Gott Wunden heilt und unsere Tochter mit Schwiegersohn und Enkel eines Tages doch wieder Kontakt zu uns sucht.

Und wenn dies nicht passieren sollte, dann halten wir uns ganz fest an unseren himmlischen Vater, der uns tröstet:

Ich will euch trösten wie eine Mutter ihr Kind. Die neue Pracht Jerusalems lässt euch den Kummer vergessen. (Jesaja 66,13)

Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben. (Matthäus 11,28)

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