– von Eugenie und Waldemar Ochs
Wie gehe ich als Christ mit der Theodizee-Frage um, wenn es mein unmittelbares familiäres Umfeld trifft? Wird sich mein Gottesbild in und nach einer tiefgreifenden Lebenskrise verändern? Was hilft und was nicht, wenn ein geliebter Mensch verstirbt? Waldemar und Eugenie haben erlebt, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren. Ihr Sohn Noel verstarb im Alter von 10 Jahren an einem Tumor im Bauch. Hier geben sie uns einen Einblick in ihre persönlichen Erfahrungen:
Waldemar: Ich hätte nie in meinen jungen Jahren erträumt, dass ich irgendwann als gläubiger Christ hautnah Leid, Schmerz und Verlust erleben würde. Doch vor ca. vier Jahren erlebten wir für uns Eltern die Hölle auf Erden, als unser Sohn Noel schwer erkrankte und nach sechs Monaten verstarb.
Eugenie: Mit Verdacht auf Blinddarmdurchbruch bin ich als Mama mit meinem Sohn ins Krankenhaus gekommen. Dort wurde ein bösartiger Tumor in seinem Bauch gefunden. Es war für mich eine schockierende Nachricht. Da es unserem Sohn zunehmend schlechter ging, mussten wir der Therapie zustimmen. Wir hatten keine Zeit, uns mit dieser Diagnose auseinanderzusetzen. Wir mussten für unseren Sohn und für unsere anderen drei Kinder stark sein. Mein Mann und ich haben uns im Krankenhaus abgewechselt.
Waldemar: Angst, Ohnmacht und Verzweiflung brachen aus. Tausend Fragen schossen uns durch den Kopf: Wie kann so etwas nur passieren? Welche Therapie ist die beste für ihn? Wird er gesund? Was haben wir Eltern falsch gemacht? Ist das die Strafe und die Folge von meinen Fehlern und Sünden, die ich als Vater begangen habe?
Nachdem einige Monate voller Herausforderungen, Krankenhausbesuche und Gesprächen mit den Ärzten vergingen, sollte unser Sohn mit einer Chemotherapie behandelt werden. Die dritte Chemotherapie schwächte ihn dermaßen, dass er für ca. zwei Tage im Koma lag. Es war absehbar, dass er demnächst sterben würde. Wir kontaktierten unsere Herkunftsfamilien, um uns im Krankenhaus zusammen von ihm zu verabschieden.
Mir brach es als Vater das Herz, meinen Sohn fast leblos vor mir liegen zu sehen, ohne dass ich ihm helfen konnte.
Ich erlebte unbeschreibliche Herzschmerzen, die mir keiner wegnehmen konnte. Durch ein Wunder wachte unser Sohn mit Wahrnehmungsstörungen wieder auf. Er war austherapiert und konnte zu uns nach Hause. Nach einem Monat intensiver häuslicher Betreuung schien die Situation unseres Sohnes sich zu bessern, doch es kam anders. Unsere Hoffnung auf Heilung war dahin. Das viele Beten hatte »nichts gebracht«. Ihm blieben nur noch wenige Wochen. Wir beschlossen, umgehend einen letzten gemeinsamen Familienurlaub zu machen, um die letzten Tage und Wochen mit unserem kranken Sohn zu verbringen. Am 29.11.2021 verstarb unser Sohn in unserer Gegenwart zu Hause in seinem Kinderzimmer.
Eugenie: Seine letzten Tage waren für uns sehr herausfordernd. Einerseits wollten wir ihn nicht mehr leiden sehen, andererseits wollten wir nicht, dass er geht. Wir hatten eine sehr gute Begleitung durch den Palliativdienst. Doch nichts kann einen darauf vorbereiten, sein eigenes Kind beerdigen zu müssen. Der Schmerz des Verlustes ist so überwältigend groß, dass er dir die Luft zum Atmen nimmt. Ich fühlte mich wie in einer Blase gefangen. Keine tröstlichen Worte oder Umarmungen konnten diese Blase durchdringen. Wo ich auch war oder was ich auch machte, es verging keine Stunde, wo ich nicht an Noel dachte. Für unsere Kinder und Familie habe ich funktioniert.
Waldemar: Wir Eltern, Pastoren und viele Gemeinden haben in der Krankheitsphase intensiv um Heilung für unseren Sohn gebetet. Einige feurige Beter haben uns ermutigen, ja sogar aufzwingen wollen, dass wir bis zum Ende für Heilung beten und nicht aufgeben sollten. Mich haben Christen nach einigen Monaten gefragt, wie es mir nach dem Tod meines Sohnes inzwischen ginge. Einige behaupteten, es wäre an der Zeit, die Trauer und den Schmerz doch nun endlich abzulegen und meinen Sohn loszulassen. Für mich ist diese fromme und nett gemeinte Aufforderung das gleiche, als würden sie mir raten, jetzt und hier zu sterben. Ich weiß, dass diese beiden oben beschriebenen Handlungen von Christen verletzen können. Sie meinen es gut und wollen vielleicht damit mehr als ihre Verbundenheit aussprechen. Ich konnte damit einigermaßen gut umgehen, denn ich wusste, dass mein Gegenüber mich nicht einfach verstehen konnte, denn es hatte selbst nicht erlebt, was wir durchgemacht hatten.
Eugenie: Es war für uns eine Achterbahn der Gefühle, zwischen Verzweiflung, Hoffnung, Zuversicht und Glauben, dass er geheilt wird. Es ist keine Heilung eingetreten, nichtsdestotrotz haben wir Wunder erleben dürfen. Wir konnten miterleben, wie Noel einen tiefen Glauben entwickelt hat. Er hat einen tiefen Frieden ausgestrahlt.
Waldemar: Wir sind für jeden Beter sehr dankbar. Für jede Familie, die uns mit einem leckeren Essen überrascht hat. Für alle, die uns einfach umarmt haben und ihr Beileid ausgesprochen haben. Für alle Menschen, die uns besucht haben. Danke an diejenigen, die mit uns gebetet, gesungen oder einfach mit uns geschwiegen haben. Dank unserem damaligen Pastor, der die Planung und die Organisation für die Trauerfeier übernommen hat, konnten wir uns als Familie mit unseren Tränen und unserer Trauer ganz unserem verstorbenen Sohn widmen. Anfang 2023 haben wir die Möglichkeit bekommen, für vier Wochen eine Familien-Reha durchzuführen. Die Nachsorgeklinik in Tannheim hat uns neue Kraft und Hoffnung gegeben. Wir trafen auf Familien, die auch ein Kind verloren hatten. Auch wenn wir uns anfangs fremd waren, bildeten wir schnell eine großartige Gemeinschaft, die Verständnis, Annahme und Heilung hervorgebracht hat. Meine Frau Eugenie hat zwei Jahre eine Psychotherapie gemacht. Ich selbst habe einen Pastor in Hamburg gefunden, der mir bei der Trauerbewältigung geholfen hat.
Eugenie: Die Psychotherapie hat mir viel gegeben. Ich hatte einen Ort, an dem ich meiner Trauer Raum geben konnte. Meine Psychologin hat mich immer wieder ermutigt, die Tränen fließen zu lassen.
Der See der Tränen musste geweint werden, um geheilt zu werden.
Eine Zeit lang drehten sich meine Gedanken nur noch um meinen Schmerz. Es war so zermürbend für mich. Doch ein kurzes Gebet von unseren Freunden brachte Veränderung. Ich kann sagen, dass sich nach diesem Gebet meine Gedanken beruhigten. In dieser Zeit sehnte ich mich danach, wieder Freude erleben zu können. Das war mein größter Wunsch. Ein großer Meilenstein der Heilung war für uns alle die Reha. Das war eine sehr intensive, emotionale Zeit. Ich kam verändert nach Hause. Der Bibelvers »Weint mit den Weinenden.« (Römer 12,15) gab mir die heilende Kraft. Viele schöne Rituale, die wir in der Reha zusammen als Familie oder jeder für sich gemacht haben, festigten unsere Familie. Wir sind sehr dankbar für diese Zeit.
Waldemar: Mein Glaube wurde schwer erschüttert. Ich habe an Gott gezweifelt, dass er es gut mit uns meint. Ich habe ihn angeschrien und angeklagt. Viele Fragen, die nicht alle beantwortet sind, muss ich stehen lassen. Ich habe hautnah erlebt, wie es ist, als Vater dem eigenen Sohn zusehen zu müssen, wie er leidet, ohne dass ich ihm dabei helfen konnte. Wie erging es unserem himmlischen Vater, als er seinen einzigen Sohn am Kreuz voll Leid und Schmerz für die gesamte Menschheit allein lassen musste? Ja, mein Glaube geriet ins Wanken und ich war sehr von Gott enttäuscht. Doch nur Gott gibt mir den Trost, den ich benötige. Nur er kann mich vollkommen verstehen. Er schenkt mir ein Leben nach dem Tod. Ich weiß, es gibt ein Wiedersehen mit meinem Sohn. Der Tod hat nicht das letzte Wort.
Eugenie: Ich kann sagen, dass in dieser Zeit mein Glaube und mein Charakter geläutert wurden. Gott lehrte mich, demütig und gnädig zu sein. Ich bin Gott dankbar für meine Familie und dass wir uns haben. Es ist ein kostbares Geschenk. Es sind nun drei Jahre seit dem Tod vergangen.
Ich kann mich wieder von Herzen freuen und das ist das größte Geschenk für mich.
Alles hat seine Zeit. Ich begriff, dass Gottes Werk für immer bestehen wird. Niemand kann etwas hinzufügen oder wegnehmen. So hat Gott es eingerichtet, damit die Menschen Ehrfurcht vor ihm haben (Prediger 3,15).
Waldemar: Uns geht es als Familie gut. Trotz Trauer und Verlust sagen wir »Ja« zum Leben. Zwei unserer Kinder haben bei einer Kunsttherapie mitgemacht. Sie sind emotional stabil. Sie haben den Verlust ihres Bruders gut verarbeiten können. Wir sprechen offen über Noel, teilen unsere Erinnerungen miteinander und treffen uns mit seinen besten Freunden und ihren Familien.
Zu den Autoren: Waldemar Ochs (39 Jahre, Lehrer) und mit Eugenie Ochs (40 Jahre, angehende Konditorin). Sie haben drei Kinder im Alter von 16, 11 und 8 Jahren. Sie sind Ehrenamtliche Mitarbeitende bei team-f, Region Bremen/Weser-Ems.