Jetzt spenden

Umzugshelfer

Umzug in einen Glauben, der wieder passt

– von Martin Benz

Glaube entwickelt sich. Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, dann sieht mein heutiger Glaube anders aus als im Alter von 13 Jahren. Glaube geht durch Phasen, und es dient seiner Gesundheit, dass er immer wieder die Übereinstimmung mit der eigenen Lebensrealität sucht.

Je ernster Menschen ihren Glauben nehmen, desto absoluter und unveränderlicher wünschen sie ihn sich. Sie unternehmen große Anstrengungen, damit er sich nicht verändert, nicht verwässert oder lau wird. Glaube soll bleiben, wie am Anfang, immer deckungsgleich mit dem Mix an Überzeugungen, dass man aus einem bestimmten Bibelverständnis hergeleitet hat. Und doch erleben manche Christen über die Jahre hinweg die zunehmende Entfremdung ihres Glaubens von ihrem Leben. Mir begegnen immer mehr Christen, die mit ihrem Glauben ehrlich werden wollen. Für sie ist die innere Spannung zu groß geworden und sie erleben den Glauben zunehmend als frustrierende Erfahrung. Diese Christen sind glaubensmüde, sie fühlen sich in ihrem eigenen Glauben nicht mehr zu Hause. Ein bestimmtes Entwicklungsmuster begegnet mir dabei immer wieder.

Erste Leidenschaft
Bei vielen Christen beginnt das Glaubensleben mit dem, was man typischerweise als »erste Liebe« bezeichnet. Überwältigende Erfahrungen mit Gott oder Gemeinschaft zünden ein inneres Feuer an, das viel Glaubensenergie freisetzt. Es ist eine Phase hoher Aktivität bei nicht so hoher Reflexion dessen, was man da eigentlich glaubt. Das Leben kommt durch den Glauben erst einmal in Bewegung.

Als ich den Glauben als Teenager entdeckt habe, war er von dieser radikalen Leidenschaft geprägt. Ich habe die Bibel zweimal im Jahr durchgelesen, meine Klassenkameraden zu allen möglichen christlichen Veranstaltungen eingeladen, auf Jugendfreizeiten Traktate verteilt, meine weltlichen Schallplatten zerbrochen und die Spielkarten der Eltern verbrannt.

Klare Glaubenssysteme
Im Laufe der Zeit entwickelt sich daraus ein Glaubenssystem. Es wachsen theologische Überzeugungen und Prägungen und man eignet sich ein bestimmtes Set an Glaubensinhalten an. Der Glaube gewinnt an Profil mit klaren Ansichten. In dieser Phase erlebt man zunächst eine wachsende Übereinstimmung zwischen Lebensrealität und Glaubensrealität. Durch meine geistliche Prägung war ich zutiefst davon überzeugt, dass Gott alle Kranken heilt, die Bibel wörtlich zu nehmen ist, all ihre Moralvorstellungen immer noch gültig sind und Gott die seinen vor allem Übel bewahren wird.

Ernüchternde Realität
In der dritten Phase wird diese Übereinstimmung empfindlich gestört. Durch ausbleibende Gebetserhörungen, geplatzte Lebensträume, Brüche in der eigenen Biografie, Gemeindekonflikte, Zweifel am bisherigen Bibelverständnis oder die Konfrontation mit anderen Glaubensmodellen bekommt das Glaubenssystem Risse. Die Eindeutigkeit bisheriger Überzeugungen schwindet und man erlebt eine wachsende Enttäuschung, Skepsis und Ernüchterung dem Glauben gegenüber. Diese Phase ist oft mit Schuldgefühlen verbunden, weil man weiß, was man glauben sollte, es aber einfach nicht mehr kann. Bei mir war es eine zerbrochene Ehe, die mich auf dem harten Boden der Realität aufschlagen ließ und an den Grundfesten meiner Glaubensüberzeugungen gerüttelt hat. Warum hat Gott meine Ehe nicht bewahrt, warum die vielen Gebete für unsere Familie nicht erhört?

Mein Gottesbild und Bibelverständnis passten nicht länger zu meiner Lebensrealität.

Wachsender Zynismus
Oftmals hält ein inneres Aufbäumen gegenüber Ernüchterung und Frustration eine Zeit lang an, nur um einen dann umso härter auf den Boden der Realität zu werfen. Die Fragen und der Zweifel, die sich eingeschlichen haben, lassen sich irgendwann nicht mehr zum Schweigen bringen. Die ständigen Appelle an die erste Liebe ziehen nicht mehr. Wer dies oft genug mitgemacht hat, dessen Ernüchterung und Frustration kann am Ende so weit führen, dass nur noch ein dumpfer Zynismus bleibt oder der Glaube gänzlich verloren geht.

Ich plädiere für einen anderen Weg: nicht zurück zur ersten Liebe, sondern durch die Veränderung unseres Glaubens, das Ernstnehmen unserer Brüche, Fragen und Zweifel die Möglichkeit schaffen, dass Glaube und Leben sich wieder zueinander entwickeln. Dadurch können eine neue Liebe und eine neue Leidenschaft wachsen für einen Glauben, der wieder authentisch und im wahrsten Sinne »glaubwürdig« ist.

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln.

Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt, und in die man niemanden mehr einladen möchte.

Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Fragen stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen sind wertvoll und möchte ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen? Welche Überzeugungen muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt? Mitnehmen, entsorgen, neu anschaffen – so kann Glaube sich kontinuierlich weiterentwickeln und wieder zu mir passen.

In meinem Glauben habe ich diese Weiterentwicklung bei ganz konkreten Themen vollzogen. Drei Beispiele:

Zum einen betraf das mein Gottesbild. Vor Jahren las ich während meiner stillen Zeit einen Text aus dem Alten Testament, in dem Gott ziemlich sadistisch dargestellt wird, als jemand, der Freude daran hat, seinem Volk Schaden, Leid und Schmerz zuzufügen. Gleichzeitig las ich einen Text aus dem Neuen Testament, In dem Jesus sich einer stadtbekannten Sünderin zuwendet, ihr Trost spendet, ihr Verhalten würdigt, ihre Liebe lobt und ihr Vergebung schenkt. Welch ein Kontrast zu dem ersten Gottesbild. Wie ist Gott denn jetzt? Gibt es Gott in mehreren Versionen und wie kann ich sicher sein, welcher Version ich gerade begegne? Unberechenbarkeit zerstört Vertrauen. Aber genau das ist doch die Grundlage unserer Gottesbeziehung. Hier hat sich mein Glaube weiterentwickelt und ich durfte entdecken, dass Gott nie anders ist, als er sich in Jesus gezeigt hat. Jesus ist das vollkommene Abbild von Gottes Charakter (Hebräer 1,1–3) und wer ihn sieht, der sieht den Vater (Johannes 14,7). In Jesus hat sich Gott vereindeutigt, damit ich ihm zutiefst vertrauen kann.

Zum anderen hat sich mein Bibelverständnis weiterentwickelt. Ich durfte wahrnehmen, dass man nicht einfach dadurch die Bibel ernst nimmt, indem man sie immer wörtlich nimmt. In der Bibel gibt es nicht nur historische, sondern auch poetische Wahrheit. Und manchmal macht man biblische Aussagen gerade dadurch kaputt, dass man sie ständig naturwissenschaftlich oder historisch verifizieren möchte. Und ich versuche, mir die Bescheidenheit zu bewahren, dass die Bibel zwar die inspirierte Wahrheit ist, man das aber nicht einfach auf unsere jeweilige Auslegung der Bibel übertragen kann. Diese ist und bleibt subjektiv. Unser Erkennen ist Stückwerk. Das macht mich friedfertiger und toleranter anderen Menschen und ihren Ansichten gegenüber.

Zum dritten unterscheide ich heute viel stärker zwischen Ethik und Moral. Moral sind einzelne Regeln, Vorschriften und Gepflogenheiten. Ethik sind die dahinterstehenden Prinzipien und Leitgedanken. Ethik ist zeitlos, Moral zeitbedingt. Ethik bleibt, Moral wandelt sich. Ethische Prinzipien ermöglichen es zu jeder Zeit und in jeder Generation, neue Moral abzuleiten. In diesem Sinne ist die Bibel für mich die Quelle von Ethik, aber nicht das Gesetzbuch einer unwandelbaren Moral. Das befreit und fördert Mündigkeit und Verantwortungsbewusstsein.

Deine Glaubensentwicklung mag andere Schwerpunkte haben. Entscheidend ist, dass Glaube und Leben wieder zusammenfinden, sich gegenseitig befruchten und Glaube sich dadurch wieder authentisch, lebendig und relevant anfühlt! Wir führen unseren stecken gebliebenen Glauben aus der Sackgasse, wenn wir ihm zugestehen, dass er sich weiterentwickeln darf.

Zum Autor: Martin Benz arbeitet als selbständiger Theologe, Podcaster, Autor und Prediger. Daneben ist er Dozent für Theologie. Seit 2016 veröffentlicht er den Podcast Movecast (www.movecast.de) und seit 2024 Lovecast, ein Podcast über Liebe, Beziehungen und Sexualität. Er lebt mit seiner Frau Nina und seinen Kindern in Lörrach. www.martinbenz.net

Martin Benz war auch zu Gast im team-f Podcast »Beziehungshelden«. Hier geht es zur Folge:
164 – »Umzug in einen Glauben, der wieder passt!« mit Martin Benz

zurück zur Übersicht