Vom Loslassen einer sicher geglaubten Illusion
– von Janis Marx
Hast du schon mal erlebt, wie eine Annahme, die sich die letzten Jahrzehnte in dir manifestierte und so auch dein Handeln im Alltag beeinflusste, sich mit nur einem Satz binnen weniger Sekunden als Unwahrheit herausstellte? Ich ja! Und es war richtig befreiend!
Aber von Anfang…
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Wer kennt es nicht, dieses Sprichwort. Mich würde nur allzu sehr interessieren, in welchem Kontext dieses Sprichwort wohl entstanden ist. Entstand es im Dialog zwischen einem Chef und seinem Arbeiter? Sagte es ein Ehemann zu seiner Ehefrau, oder umgekehrt? Oder wurde es als Drohung von einem Vater, einer Mutter an das Kind ausgesprochen?
Es gibt wahrscheinlich noch hunderte mögliche Szenarien, wie dieses Sprichwort wohl entstanden ist, von der Unterschiedlichkeit der Szenen ganz zu Schweigen. Doch eins bleibt immer gleich: die verborgene Sehnsucht oder sogar Not dessen, der diesen Satz benutzt. Das hohe Bestreben nach Sicherheit. Der Grund dafür könnte diverse Ursachen haben. Ich möchte mich auf eine konzentrieren:
Die Angst vor der Ohnmacht
– die kenne ich nämlich allzu gut.
Momente völliger Ohnmacht erlebte ich bereits im Alter von fünf Jahren. Es war ein Abend in unserer Kirchengemeinde. Während der Chorprobe verlor meine Mutter plötzlich das Bewusstsein. Die Aufregung war groß. Notarzt, Krankenwagen, das volle Programm – und mittendrin meine Schwester und ich. Zwar wurde versucht, uns von all dem Tumult fern zu halten, doch kann ich heute noch die Angst, Hektik und Unsicherheit spüren, die sich an jenem Abend in der Gemeinde bis in jede kleinste Ecke ausbreitete. Das letzte Bild, an das ich mich erinnere, ist ein Krankenwagen mit Blaulicht, der sich immer weiter von uns entfernte. Darin meine Eltern. Wir stehen auf den Stufen des Eingangsbereichs, in sicherer Obhut familiärer Freunde, dennoch in völliger Ohnmacht. – Ein scheiß Gefühl.
Warum ich mich so gut daran erinnern kann? An diesem Tag fing für meine Mutter und uns ein langer Leidensweg mit ungewissem Ende an. Sie hatte einen bösartigen Hirntumor.
Ich bin überzeugt davon, dass viele Menschen, auch schon in jungen Jahren, Situationen erlebt haben, in denen sie der Ohnmacht schutzlos ausgeliefert waren. Solche (teils traumatischen) Erlebnisse prägen uns und wecken – wenn nicht offensichtlich, dann im Verborgenen – in uns die Angst einer Wiederholung und somit eine Angst vor der Ohnmacht. Einem Zustand der völligen Handlungsunfähigkeit. Das Gefühl, auf ein Gleisbett gekettet zu sein und der herannahenden Bedrohung unausweichlich ausgeliefert zu sein. Dabei ist die Ohnmacht nicht abhängig von einer bestimmten Situation. Ist nicht abhängig von Krankheit oder Beziehungsdynamik, von Verlust oder Tragik. Sie passt sich an. Der eine erlebt die Ohnmacht in der Beziehung oder Ehe, der andere bezogen auf seine Gesundheit oder die Gesundheit seiner Liebsten. Als Menschen haben wir die Veranlagung, aus bedrohlichen Situationen heraus Strategien zu entwickeln, die uns helfen, einer erneuten Konfrontation dieser erlebten Bedrohungen so gut es geht auszuweichen. Eine gern gewählte Strategie aus Angst vor der Ohnmacht ist die Kontrolle. Denn haben wir die Kontrolle, sind wir handlungsfähig, haben Sicherheit. Wir sind wirksam und spüren uns. Klingt erstmal ganz gut und logisch.
Wir fangen also an, unser Leben in Teilen so zu gestalten, dass wir versuchen, unvorhergesehene Ereignisse zu minimieren. Wir versuchen, den verschiedensten Ängsten entgegenzuwirken, ändern unsere Lebensweise und/oder treffen weitreichende Entscheidungen. Versuchen, in vielen Lebensbereichen so gut es geht die Kontrolle oder vielleicht sogar die Herrschaft über uns, unsere Beziehungen, unsere Familien oder unsere Pläne für die Zukunft aufrechtzuhalten. Dabei ist die Kontrolle abhängig von meinem persönlichen Sicherheitsbedürfnis. Und meistens wächst dieses. Im schlimmsten Fall führt es in den Kontrollzwang. Ein weiterer Nachteil der Kontrolle ist, dass sie immer nur so stark ist wie unsere eigenen Kraftanstrengung, die Situation zu kontrollieren.
Doch was ist, wenn die Bedrohung einmal so groß ist, dass wir mit unserer Kontrolle nicht den Hauch einer Chance haben, gegen sie anzukommen? Wenn die Angst uns einnimmt und die Ohnmacht in großen Schritten auf uns zu marschiert? Bitte versteh mich nicht falsch. Ich finde es absolut richtig und wichtig, in bestimmten Bereichen kontrolliert zu handeln; halte es für wichtig, sich Gedanken über die Lebensweise zu machen und gewisse Risiken im Leben, im Alltag und in Beziehung durch sein Handeln zu minimieren. Jedoch halte ich es für riskant, sich zu sehr auf die Kontrolle zu fokussieren, denn jetzt kommt‘s:
Kontrolle ist eine Illusion!
Kontrolle ist der Wunsch nach hundertprozentiger Sicherheit. Und diese gibt es definitiv nicht. Niemand von uns kann mit Sicherheit sagen, dass er morgen noch lebt. Kein Ereignis lässt sich mit absoluter Sicherheit vorhersagen, auch bei den wahrscheinlichsten Prozessen bleibt ein gewisser Prozentsatz an Ungewissheit. Und somit bleibt von der Basis unserer Jahrzehnte lang angewandten Strategie nichts weiter übrig als eine Illusion, eine Unwahrheit.
Wow, das hat gesessen, dachte ich, als mein Psychotherapeut mich mit dieser Aussage konfrontierte. Für mich war diese Erkenntnis zuerst eine große Herausforderung und schwer einzuordnen. Sie klang für mich fast schon nach Resignation: »Ich kann ja eh nichts ändern…« Auf welche Grundlage sollte ich denn sonst die Strategie im Umgang mit der Angst vor der Ohnmacht aufbauen?
Die Grundlage lautet Vertrauen – Loslassen der Kontrolle!
Diese Herausforderung birgt zugleich ein großes Potential an Freiheit. Und Freiheit fühlt sich gut an! Das Gefühl, in manchen Bereichen des Lebens nicht mehr kontrollieren zu müssen, sondern vertrauen zu dürfen. Zu vertrauen auf die innere Resilienz, das verantwortungsbewusste Handeln von Mitmenschen oder Ärzten, dem Lauf der Dinge, aber vor allem der Gewissheit, dass Gott es gut mit mir meint.
Bei Gott finden wir 100 Prozent.
Er macht uns das Angebot, all unser Vertrauen auf ihn zu werfen, eben weil er unsere Schwächen und Ängste so gut kennt. Kontrolle hatte Abraham und Sarah in ihrer Not um ein gemeinsames Kind nicht weiter gebracht. Im Gegenteil. Letztlich war es das völlige Vertrauen auf Gottes Eingreifen. Und so tut er es auch in unserem Leben. Davon bin ich überzeugt!
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.« – Sind wir immer noch der Meinung, dass dieses Sprichwort eine gute Strategie für uns ist? Ich teile diese Aussage nicht mehr. Vielmehr bin ich gewillt, meine Strategie im Umgang mit Angst vor der Ohnmacht auf folgende Aussage zu stützen: Kontrolliertes Handeln ist hilfreich, Vertrauen aber ist existenziell!
Ich bin mir nicht sicher, ob ich ohne die professionelle Gesprächstherapie zu dieser Erkenntnis gekommen wäre. Gerade wir Männer versuchen ja oft, die »Dinge« die uns beschäftigen, erst einmal mit uns selbst zu klären. Ich bin absolut dankbar für die Erkenntnis und kann jeden, der sich bei bestimmten Fragen und Verhaltensmustern in seinem Leben Veränderung wünscht, ermutigen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Besonders uns Männern!
Zum Autor: Janis Marx (Jahrgang 1988) ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er ist selbständiger Filmemacher und Regionalleiter bei team-f und leitet dort u. a. Männertage.