Jetzt spenden

So unterschiedlich… und noch immer verliebt

Während das erste Lied bereits gesungen wurde, saß sie noch auf der untersten Stufe der Kirchetreppe und rauchte die letzten Züge ihrer selbst gedrehten Zigarette. Im Sonnenschein glitzerte ihr Haar in roter Hennafarbe und ihr buntes Kleid, das sie trug, hatte sie kurze Zeit vorher beim Trödelmarkt erworben…

Während ihre Gedanken noch beim letzten Hippiefestival waren, lief ein junger Mann in Uniform vorbei und sprang immer gleich zwei Stufen auf einmal hinauf zur Kirche. Nach der Nachtwache in der Kaserne hatte er sich beeilt, Gas gegeben und auf ein Frühstück verzichtet. Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit.

Sie hatte nicht den Eindruck etwas Lebenswichtiges zu verpassen. Die Kippe zu Ende zu rauchen war vorrangig.

Beide nahmen den jeweils anderen kurze Zeit wahr… Die Gefühle, die dem folgten, waren nicht sofort einzuordnen. Es schien jedoch eine Art Faszination von der fremden Andersartigkeit auszugehen. Vermutlich kannst du dir denken, wie die Geschichte weitergeht.

Und wenn sie nicht gestorben sind…,

dann leben sie noch heute glücklich und in Eintracht zusammen. – Glaubt man einer langen Reihe von Bestsellern, so sind Männer und Frauen an sich schon total unterschiedlich. Bei diesen beiden jungen Leuten waren es darüber hinaus zwei absolut gegensätzliche Persönlichkeitsstrukturen, die aufeinandertrafen:

SIE wurde durch eine stetige Struktur motiviert, brachte Dinge gern ordentlich zu Ende, lebte im Prozess auf und suchte immer wieder den Rückzugsraum, um sich zu ordnen. ER liebte die Dynamik und die Geschwindigkeit, wollte bestehende Sachen gern verändern und hatte keine Angst vor Konfrontationen. Das liegt nun mehr als 40 Jahre zurück und die beiden sind noch immer zusammen.

Doch was in der kurzen Zeit des Verliebtseins heftig anziehend erschien, sogar als Genuss empfunden wurde, entwickelte sich über die Dauer der Jahre auch zu Spannungen. Die Aufzählung der verschiedenen Motivationsbereiche könnte als amüsant empfunden werden. Im Alltag verlor sich die Fröhlichkeit darüber allerdings rasch. Der Schnelle musste auch möglichst schnell lernen sich in Geduld zu üben. Sein Gebet lautete: Herr schenk Geduld, aber gleich jetzt. Der Prozessor musste auf der anderen Seite die Bereitschaft entwickeln, ich auch auf Wagnisse einzulassen, mit für ihn halb fertigen Sachen zu leben oder auf Pausen zu verzichten, nur um aus seiner Sicht unnötig schnell am Ziel zu sein.

Manche Ehepartner empfinden sich auf diesem Weg zunehmend als dem anderen ausgeliefert und als Opfer ihrer Entscheidung. Wie konnte ich nur so blind sein? Warum habe ich mir nicht jemanden gesucht, der besser zu mir passt, mir ähnlicher ist? Ehen können darüber im Frust trostlos und öde werden. Das ist keine neue Entwicklung. Neu ist nur, dass immer weniger Paare, nur weil sie es einmal versprochen haben, zusammenbleiben.

Prof. Fthenakis* schreibt dazu: Wenn die Genussdividende nicht mehr ausreichend ist, bleiben zwei Möglichkeiten:

Training oder Trennung

Training kann auch bedeuten, zu einer ganz neuen inneren Haltung zu gelangen, eine andere Sichtweise zuzulassen. Es geht in der Partnerschaft gar nicht um den Reiz des dauerhaften Verliebtseins, sondern um beständige, tiefe Liebe. Auf dem Weg dahin gilt es eine Art Transformation zu erleben. Nämlich von der noch eher oberflächlichen Idee der Genussdividende zu einer tief gehenden, liebevollen Hingabe zu kommen, den anderen anzunehmen wie er ist und die Vorstellung aufzugeben, er würde sich meinen Wünschen gemäß verändern.

Hilfreich kann dabei die Entscheidung zu einer absoluten Offenheit und Ehrlichkeit sein. Im Schutz des Ehebundes wird es möglich, dem anderen tatsächlich zu offenbaren, wie es mir gerade mit ihm geht, was ich in der Beziehung vermisse und wie sehr ich manchmal leide. Weil ich weiß, dass ich darauf vertrauen kann, dass der andere nicht abhaut, wenn er schmerzliches hört und die Beziehung nicht infrage stellt, kann ich mich öffnen.

Das fühlt sich zunächst nicht glücklich an und fordert heraus.
Aber wer bereit ist diesen Weg zu gehen, wird selbst verändert, charakterlich reifen und weitsichtiger.

Die Differenzen und die Spannung der Unterschiedlichkeit lösen sich dabei manchmal gar nicht auf, aber wir können lernen, besser damit umzugehen. Gerade das vertieft die Partnerschaft. Wir erkennen einander mehr und mehr, lernen einander anzunehmen und dürfen endlich sein, wie wir sind, ohne etwas vortäuschen zu müssen.

In der Rückschau von 41 spannenden und spannungsreichen Ehejahren werden wir glücklich. Welch enormer Segen und menschlicher Reichtum wurde dabei dem Ewigkeitskonto gutgeschrieben!  In den tiefsten Tiefen durchgehalten zu haben, hat uns viel nähergebracht und das Vertrauen ist weitergewachsen. Verliebt wie am Anfang sind wir nicht mehr, aber wir lieben uns, wissen was wir voneinander haben, wie sehr der so andere uns hat reifen und wachsen lassen.

Vor einigen Wochen habe ich ein Baumhaus in die Birke auf unserem Grundstück gebaut. Wir konnten nie den Sonnenuntergang beobachten, immer war Nachbars Haus im Blick. Wenn wir heute mit über 60 Jahren mit einem Glas Wein in der Hand im Baum sitzen und endlich frei sehen können, stellt sich ein verrückt romantisches Gefühl ein. Und wenn wir uns dann in der Abendsonne anschauen, fliegt uns ein Gedanke zu. In den Typen könnte ich mich auch noch einmal verlieben. Das brauchen wir nicht – DENN WIR LIEBEN UNS SCHON!

von Christof Matthias

*Wassilios E. Fthenakis,Professor für Entwicklungspsychologie und Anthropologie an der. Freien Universität Bozen — Fakultät für Bildungswissenschaften

zurück zur Übersicht